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Das Dorf - Keimzelle des Landes

Unsere Dörfer und ländlichen Regionen haben gute Chancen für eine gedeihliche Zukunftsentwicklung. Sie müssen ihre Chancen erkennen und gemeinsam Zielvorstellungen entwickeln. Von Holger Magel und Josef Attenberger

Der ländliche Raum und seine Siedlungseinheiten, die kleineren Städte, Märkte und der Dörfer, haben in den zurückliegenden Jahrzehnten eine enorme Aufwärtsentwicklung erfahren. Galt früher die Devise: “Nur Stadtluft macht frei", so hat sich diese urban geprägte Grundeinstellung vieler Bürger inzwischen ins Gegenteil verkehrt: Was früher eher als rückständig und hinterwäldlerisch galt, nämlich das Bekenntnis zur ländlichen Heimat und zur Regionalität, ist heute einer Aufwertung des Lebens auf dem Lande gewichen. In der Tat hat das Land in vielen Bereichen gegenüber den Ballungsräumen aufgeholt oder sogar gewonnen. Die Gründe liegen unter anderem darin, dass die Bildungschancen heute ziemlich gleichmäßig über das ganze Land verteilt sind. Auch die Infrastruk-tur hat sich zum Beispiel dank breiter Dorferneuerungs- und Landentwicklungsmaßnahmen im Sin-ne wertgleicher Lebensbedingungen den städtischen Räumen angeglichen.

Es kommt hinzu, dass sich die ungebrochene Sehnsucht nach einem kostengünstigen Eigenheim und einem naturnahen Lebensumfeld leichter auf dem Lande als in der Stadt erfüllen lässt. Außer-dem entsprechen die Dörfer in besonderer Weise, nämlich sozial direkt spürbar und erlebbar, dem wiedererwachten Bedürfnis vieler Menschen nach Einbindung in eine überschaubare Gemein-schaft und Mitbestimmung bei der Gestaltung des Lebensraumes.

Diese sehr positive Entwicklung war noch vor 50 Jahren in keiner Weise vorhersehbar und zeigt, wie schwierig es ist, eine zuverlässige Zukunftsprognose über das Dorf im nächsten Jahrhundert zu geben. Es kann deshalb nur darum gehen, “die Gegenwart der Zukunft” zu beschreiben und zu versuchen, daraus Forderungen für eine gedeihliche Entwicklung der Dörfer abzuleiten. Sie nämlich sind die Keimzellen des Landes, die auch in Zukunft atmen müssen, damit - wie es der frühere fran-zösische Ministerpräsident Edgar Faure einmal formulierte - “die Städte nicht ersticken”. Maßgeb-lich für ein Zukunftsszenario müssen dabei generell aktuelle Trends und Rahmenbedingungen sein, die massiv die Entwicklung der Dörfer beeinflussen. Zu nennen ist hier vor allem der fortschreiten-de Strukturwandel in der Landwirtschaft, der sich als Folge der Agenda 2000 zumindest in den klein-strukturierten südlichen Bundesländern verschärfen und (nicht) absehbare Folgen für die Gestal-tung der Dörfer, für die Kulturlandschaft und auch für die Kultur auf dem Lande haben wird. In wel-chen kommunalen Gremien wird denn zum Beispiel ernsthaft über Dörfer ohne Landwirtschaft nachgedacht? Es gibt zwar verschiedene sektorale Szenarien wie zum Beispiel Landnutzungsmodelle, aber noch viel zu wenig an Gesamtschau für das Dorf! Deshalb muss künftig ein größerer Schwerpunkt in der zukunftsorientierten Kommunalpolitik und in den Verwaltungen auf diesen Untersuchungsbereich gelegt werden.

Negative Wirkungen für das Land hat auch das Plus der städtischen Räume an Kapital, Investitionen und Bevölkerung. Dabei wird die neue europäische Strukturpolitik (Ziel 2-Gebiet) zusätzlich zu einer Stärkung der Stadtregionen zu Lasten peripherer ländlicher Räume führen, wenn nicht von Seiten der Bundes- und Landesregierungen massiv gegengesteuert wird.
Nicht zuletzt wirken sich auch die Globalisierung und Internationalisierung der Wirtschaft sowie die Überwindung von Raum und Zeit durch die neuen Medien auf die ländlichen Räume aus. Sie wer-den den Wettbewerb und die Standortkonkurrenzen zwischen den Stadtregionen und ländlichen Räumen enorm verschärfen. Sie bilden - wie der renommierte Münchner Politikprofessor Werner Weidenfeld (1999) vor kurzem festgestellt hat - “den Grundpfeiler einer völlig neuen Ökonomie”. Dörfer und ihre ländlichen Regionen haben deshalb keinen Anlass, sich - zufrieden über die letztlich äußerst positive Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten -zurückzulehnen.

Für die Dörfer und den ländlichen Raum gibt es keinen Automatismus im Sinne einer sich selbst erfüllenden Botschaft. “Das Land hat Zukunft“, so hat kürzlich Kenichi Ohmae, ein japanischer “Glo-kalist” (weil global und lokal agierend) und Spitzenmanager einen rapiden Aufschwung der Regio-nen prophezeit: “Die Zukunft gehört regionalen und hierbei jenen Wirtschaftsräumen, die eine erfolgreiche Interaktion mit der restlichen Welt* aufbauen. Dabei haben - nach Erfahrungen aus den USA - gerade auch Regionen, die von dicht besiedelten Städten und Ballungsräumen weit ent-fernt liegen (. . .) große Chancen." Er bekräftigt damit den amerikanischen Zukunftsforscher John Naisbitt, der schon Anfang der 80er Jahre in seinem Bestseller “Megatrends” voraussagte: “An der Schwelle zum 3. Jahrtausend wird das Leben auf dem Lande die Lebensform der Zukunft sein”
Diese Zukunft muss aber hart erarbeitet werden. Ganz offensichtlich gibt es hierbei große Defizite, denn der bereits zitierte Weidenfeld vermisst politische “Visionen und Konzepte (. . .), die den so-zialen Wandel steuern und seine Geschwindigkeit regeln könnten”. “Wenn es stimmt”, so Weiden-feld, “dass Utopien die Grundlage für gesellschaftliche Veränderungen sind, woher kommt dann heute die Utopie einer zukünftigen Welt?”

Es geht um Utopien für den Globus ebenso wie um Utopien für die überschaubare Lebenswelt in der Größenordnung einer kleinen Gemeinde oder eines Dorfes.
Diese Utopie, die unter Verzicht auf abgehobene, nicht erfüllbare Visionen besser als “Real-Utopie” zu bezeichnen wäre, kann nicht von oben nach unten verordnet werden, sondern muss vielmehr in einem sogenannten Bottom-up-Prozeß von Kommunen und Bürgern entstehen. Unter Berücksichtigung der aufgezeigten Trends und Rahmenbedingungen werden daraus folgende Ma-ximen für eine zukunftsorientierte Entwicklung der Dörfer im nächsten Jahrtausend abgeleitet:

Dörfer und Gemeinden brauchen auf Grundlage ihrer “Real-Utopien”

Leitbilder für die Entwicklung:

“Quidquid agis, prudenter agas et respice finem!” _ “Was immer du tust, tue es klug und beachte das Ende!” Jeder Einzelne tut erfahrungsgemäß gut daran, diese Lebensweisheit des griechischen Philosophen Epiktet zu beherzigen. Sie gilt gleichermaßen auch für die Dörfer und Gemeinden Auch sie müssen zur Bewältigung vielfaltiger Herausforderungen und Probleme klug, vorausschau-end und die Folgen beachtend handeln. Entwicklung braucht (Werte-)Orientierung. Damit stellt sich für die Dörfer und Gemeinden wie selbstverständlich die Aufgabe, für ihr künftiges Wollen gemeinsame Zielvorstellungen zu entwickeln. Gesucht wird also ein zukunftsorientiertes Leitbild fiir Siedlung, Landschaft und soziales Zusammenleben.
Ausgehend von Geschichte und Gegenwart, humanen und sonstigen Ressourcen gilt es, in einem intensiven Diskussionsprozess von allen mitgetragene Leitlinien zu erarbeiten, die helfen können, die gewollte zukünftige Entwicklung des Dorfes und der Gemeinde zielorientiert zu steuern. Hierzu ist unter anderem auch eine konsequente Bildungsarbeit für Mandatsträger und Bürger (“capacity building”) notwendig. Wissen und Bildung als vierter Produktions-und zentraler Standortfaktor wird mehr als bisher zum strategischen Überlebensmittel!

Den Trend der integrierten Gemeinde- und Regionalentwicklung nutzen:

Die kleinregionale Ebene als Maßstabseinheit der regionalen Entwicklung gewinnt zunehmend - und zwar rapide - an Bedeutung: Immer mehr Gemeinden sehen auch vor dem Hintergrund knap-per werdender Finanzmittel ein, dass diverse Probleme in den Bereichen Naherholung und Frem-denverkehr, regionale Vermarktung und wirtschaftliche Entwicklung allein nicht mehr gelöst wer-den können. Auch muss es gemeindeübergreifend um nachhaltige Entwicklungen gehen, das heißt um die gleichheitliche Berücksichtigung ökologischer, ökonomischer und sozialkultureller Aspekte, die vielfach in den Dörfern in eigener, alleiniger Zuständigkeit nicht mehr gelöst werden können. Deshalb ist im nächsten Jahrhundert endgültig Abschied zu nehmen von lokaler Kirchturmpolitik! Interkommunale Zusammenarbeit wird die Regel sein.

Chancen der Telekommunikation müssen genutzt werden:

Die größte Herausforderung wird angesichts der strukturellen Arbeitslosigkeit die Schaffung einer ausreichenden Zahl von Arbeitsplätzen sein. Es muss also gelingen, in den Dörfern oder zumindest in gut erreichbarer Nähe ein ausreichendes Angebot an qualifizierten Arbeitsplätzen zu schaffen, um längerfristig eine Abwanderung gerade der gut ausgebildeten erwerbsaktiven Bevölkerung zu vermeiden. Der sich verschärfende Strukturwandel in der Landwirtschaft sowie die Internationali-sierung des Arbeitsmarktes erhöhen zweifellos die Brisanz. Für viele bäuerliche Betriebe besteht angesichts relativ bescheidener Flächenausstattung nur dann eine Überlebenschance, wenn Zu- und Nebenerwerbsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. Aus diesem Grund verdienen die neuen Initiativen zur Stärkung der Nahversorgung die volle kommunalpolitische Unterstützung! Neue Informationstechnologien bieten erstmals in der Menschheitsgeschichte die Möglichkeit, das der-zeit größte Handicap des ländlichen Raumes auszugleichen: die Entfernung zu städtisch gebunde-nen Ausbildungsstätten und Arbeitsplätzen. Das Zauberwort heißt Telematik. Längst gibt es erfolg-reich wirkende dezentrale Telearbeitsplätze zum Beispiel bei BMW oder IBM. Die Gemeinden müs-sen sich diesen technologischen und letztlich kommunalpolitischen Herausforderungen offensiv stellen. Sie müssen nach Aussage von Heribert Thallmair, dem Präsidenten des Bayerischen Ge-meindetages, die neuen Technologien wie Internet und Intranet in ihren Alltag integrieren und im Zuge neuer- kommunalpolitischer Strategien - zum Beispiel “Gemeinde 2001” -jederzeit interaktiv ansprechbare Partner von Unternehmen und Bürgern sein.

Es geht um eine neue Bürger- und Sozialkultur:

Landes- und Kommunalpolitik im 21. Jahrhundert muss auf den Vorrang von Eigenverantwortung, auf Chancengleichheit und Solidarität setzen. Nur so ermöglicht und nutzt sie die aufkommende Bürgergesellschaft und die herbeigesehnte notwendige neue Bürger- und Sozialkultur. Kommunal-politik à la “Gemeinde 2001” muss diese Entwicklung im Sinne einer proaktiven Haltung nutzen und darf nicht dagegen arbeiten. Das 21. Jahrhundert wird geprägt sein von repräsentativen und gleich-zeitig partizipativen Demokratieformen sowie im Kommunalen und auch im Alltag der Verwaltun-gen von der Dualität rechtlich-formalen und informellen Planens, Handelns und Entscheidens.
Deshalb müssen auch und gerade Regional-, Gemeinde- und Dorfentwicklung auf diese neuen Strömungen ausgerichtet sein. Sie sollen eigenständig und partizipativ, nachhaltig, integrativ und zukunftsfähig sowie gemeinwohlorientiert und sozialgerecht sein. Um dies zu erreichen, brauchen sie eine neue Form der Planung und Entscheidungsfindung, wie zum Beispiel Dialogplanungen, Moderation und Mediation. Damit entsprechen sie der Vision einer innovativen Gesellschaft im 21. Jahrhundert, das ja bekanntlich ein Jahrhundert der Kommunen und Bürger sein wird.

Prof. Dr. Holger Magel ist Präsident, Josef Attenberger Geschäftsführer der Bayerischen Akademie Ländlicher Raum e. V., München